Wolfsgeschichten
Ein Indianer und ein Wolf
Vor vielen Jahren lebte ich mehrere Monate mit Ken Nukwon, einem alten Indianer, im kanadischen Yukon, nördlich des Polarkreises. Abends saßen wir im Licht der Petroleumlampen und er erzählte Geschichten. Eine davon habe ich aufgeschrieben ...
Eines Winters kontrollierte ich mit meinen Schneeschuhen die Trapline, wo
ich Fallen für Marder und Luchse gestellt hatte. Als ich wieder zur Hütte
zurückkam, sah ich an Spuren im Schnee, dass mir offensichtlich einer meiner
Hunde gefolgt war. Ich sah nach, aber alle Hunde waren angekettet an ihrem
Platz. Am nächsten Tag waren die Spuren wieder da und das Tier war mir erneut
gefolgt, ohne aber in eine der Fallen zu treten. Als ich das nächste Mal
wieder die Fallen kontrollierte, versteckte ich mich auf halbem Wege hinter
einer umgestürzten Fichte, und tatsächlich kam nach wenigen Minuten ein Wolf
den Weg entlang. Er war zerzaust und abgemagert, offensichtlich sehr hungrig.
In fünf Metern Entfernung entdeckte er mich, blieb kurz stehen und sah mich
etwas verschämt an. Dann trottete er langsam wieder zurück. Ich hätte ihn
leicht schießen können, aber ich war neugierig, mehr über diesen Wolf zu
erfahren |
− Autor unbekannt |
Gedanken eines Wolfes
Seit den Zeiten, als nur Sonne und Mond uns Licht gaben, kannte ich Dich. Aus den riesigen und undurchdringlichen Wäldern heraus beobachtete ich Dich. Ich war Zeuge, als Du das Feuer bändigtest und fremdartige, neue Werkzeuge machtest. Von den Kämmen der Hügel und Berge aus sah ich Dich jagen und beneidete Dich um Deine Jagderfolge. Ich fraß Deine Beutereste und Du fraßt meine Beutereste. Ich lauschte Deinen Gesängen und sah Deinen Schatten um die hellen Feuer tanzen. In einer Zeit, so weit zurück, dass ich mich kaum mehr erinnern kann, schlossen sich einige von uns Dir an um mit Dir an den Feuern zu sitzen. Sie wurden Mitglieder Deines Rudels, jagten mit Dir, beschützten Deine Welpen, halfen Dir, fürchteten Dich, liebten Dich. Und für sehr lange Zeiten lebten wir so zusammen, denn unsere Wesen waren sich sehr ähnlich. Deswegen hast Du die Zahmen von uns adoptiert. Ich weiß, einige von Euch respektieren auch mich, den Wilden. Ich bin ein guter Jäger. Auch ich respektierte Dich. Auch Du warst ein guter Jäger. Ich sah Dich oft gemeinsam mit den Zahmen Beute erlegen. In jenen Zeiten gab es alles im Überfluss. Es gab nur wenige von Euch. Die Wälder waren groß. Wir heulten zusammen mit den Zahmen in der Nacht. Einige von ihnen kehrten zu uns zurück, um mit uns zu jagen. Einige von ihnen fraßen wir, denn sie waren uns zu fremd geworden. So lebten wir zusammen für lange, lange Zeiten. Es war ein gutes Leben. Manchmal stahl ich von Deiner Beute, und Du stahlst von meiner Beute. Erinnerst Du Dich, wie Dein Rudel hungerte als der Schnee hoch lag? Du fraßt die Beute, die wir erlegt hatten. Das war unser Spiel. Das war unsere gegenseitige Schuld. Manche nannten es ein Versprechen.
Wie viele der Zahmen aber wurdest auch Du uns immer fremder. Wir waren
uns einst so ähnlich, aber jetzt erkenne ich einige der Zahmen nicht
mehr und ich erkenne auch einige von Euch nicht mehr. Du machtest auch
die Beute zahm. Als ich begann, Deine zahme Beute zu jagen (es waren
dumme Kreaturen, auf die die Jagd keine Herausforderung war, aber die
wilde Beute war verschwunden), jagtest Du mich und ich verstand nicht,
warum.
Wir Wilden sind nur noch wenige. Du zerstörtest unsere Wälder und
brachtest viele von uns um. Aber ich jage immer noch und füttere meine
versteckten Welpen, wie ich es immer getan habe. Ich frage mich, ob die
Zahmen eine weise Wahl trafen, als sie sich Euch anschlossen. Sie haben
den Geist der Wildnis vergessen. Es gibt viele, viele von ihnen, aber
sie sind mir so fremd. Ich denke, ich kenne Dich nicht mehr länger. |
− Aus Jim Brandenburg's Buch "Brother Wolf" |
Zuletzt geändert am 21.04.2020